KONGRESS 2025
INTERVIEW MIT MATTHIAS HARTWICH: «UNSERE MITGLIEDER SIND UNSER KOMPASS»
Am vorigen Kongress, am 27. Oktober 2022, wurde Matthias Hartwich erstmals zum Präsidenten des SEV gewählt. Anfang 2023 übernahm er das Amt von Giorgio Tuti. Am kommenden Kongress, am 12. Juni, tritt der 58-jährige Vollblutgewerkschafter erneut zur Wahl an. Ein Gespräch.

Matthias Hartwich, fühlst du dich heute anders als vor zweieinhalb Jahren?
Auf jeden Fall. Ich fühle mich ungefähr zweieinhalb Jahre älter, vielleicht sogar ein bisschen mehr (lacht). So eine erste Wahl ist immer aufregend. Das ist wie jedes erste Mal. Ich spürte beim SEV eine grosse Willkommenskultur. Das heisst, ich habe mich von Anfang an gut aufgehoben gefühlt. Das hat mir die Sicherheit gegeben, auf unsere Kolleginnen und Kollegen zuzugehen und bei ihnen zu sein. Dieses gute Gefühl ist geblieben.
Gibt es Momente, die dir in den letzten zweieinhalb Jahren besonders in Erinnerung geblieben sind?
Ja, da gab es viele. Ein unvergesslicher Augenblick war meine Wahl zum Präsidenten – das war ein grosser Meilenstein in meinem gewerkschaftlichen Leben. Gleich danach haben wir mit den Kolleginnen und Kollegen unsere ersten gemeinsamen Aktivitäten gestartet. Aber wir haben auch schwierige Zeiten durchlebt, und manche Veränderungen taten weh. Wie in jeder guten Beziehung gibt es Höhen und Tiefen: Solange die guten Momente überwiegen, lohnt es sich, weiterzumachen.
Du bist also hochmotiviert, erneut zu kandidieren – für weitere vier Jahre. Wenn du zurückblickst, gibt es Dinge, die du heute anders machen würdest?
Rückblickend hätte ich manche Prozesse mit etwas mehr Geduld angehen können – wir Norddeutschen sind ja nicht immer die Ruhigsten. Andererseits bin ich stolz, dass wir vieles ins Rollen gebracht haben, gerade weil viele Kolleginnen und Kollegen Veränderung wollten. Ein guter Kompromiss ist eben nie perfekt für alle, doch solange wir Kurs halten, schadet ein beherzter Start nicht.
Vor zweieinhalb Jahren hast du den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt zitiert: «Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.» Hast du in den letzten beiden Jahren trotzdem eine Vision für den SEV entwickelt?
Ich bleibe vorsichtig mit dem Wort «Vision». Es klingt nach grossem Wurf, doch Gewerkschaftsarbeit ist etwas, das man Schritt für Schritt entwickelt. Viel wichtiger ist die Frage: Was wollen wir erreichen und wohin wollen wir? Die Vorstellungen, die ich damals hatte, haben den Vorstand überzeugt, mich zur Wahl vorzuschlagen. Noch sind wir nicht am Ziel. Unser Kompass sind die Interessen und Aufträge unserer Mitglieder – danach steuern wir das Schiff.
Kannst du konkretisieren, in welche Richtung der SEV dieses Schiff steuert?
Zum einen sind wir im Dialog mit der EU: Wir müssen sicherstellen, dass in der Schweiz geltende Arbeitsbedingungen auch für das grenzüberschreitende Personal gilt, sei es im Bahnverkehr, im Schienengüterverkehr oder im gesamten öffentlichen Verkehr. Mobilität ist für uns ein Teil der Daseinsvorsorge – fast ein Grundrecht. Unser Auftrag ist, Politik so zu gestalten, dass dieses Recht nicht ausgehöhlt wird.
Betreibt der SEV vermehrt Parteipolitik?
Wir sind nicht parteipolitisch, wohl aber politisch aktiv: Verkehrspolitik und Sparpolitik wird in Parlamenten gemacht. Wir müssen unsere Kolleginnen und Kollegen sowie die Kundinnen und Kunden vor falschen Einsparungen schützen. Das heisst, wir betreiben ständig Politik, ohne Parteipolitik zu machen.
Ein Problem ist oft, dass der Service public oder die Daseinsvorsorge nur als Angebot für Reisende gesehen wird – das Personal dahinter gerät in Vergessenheit.
Genau hier setzt unsere Arbeit an: Wir vertreten all jene, die hinter den Kulissen den öffentlichen Verkehr möglich machen – vom Zug- und Buspersonal bis zur Infrastruktur. Wir müssen diesen Menschen ein Gesicht und eine Stimme geben, manchmal laut, manchmal leise.
Müssen wir in den nächsten vier Jahren mit härteren Bandagen kämpfen, vielleicht sogar über Streiks nachdenken?
Wir müssen vorbereitet sein. Schon das Wort Streik erzeugt bei vielen Angst, und die Hürden sind hoch. Aber wir müssen in der Lage sein, Kampagnen und – wenn unumgänglich – Kampfmassnahmen erfolgreich umzusetzen. Respekt verdient man sich jeden Tag, etwa durch hervorragende Arbeit: Unsere Kolleginnen und Kollegen liefern in der Schweiz einen öffentlichen Verkehr, der in Europa seinesgleichen sucht. Wenn Gesundheit, Arbeit oder Einkommen angegriffen werden, müssen wir aufstehen – solidarisch und demokratisch.
Was ist dein grösster Wunsch für die nächsten vier Jahre?
Mein Ziel ist, dass der SEV in vier Jahren eine so starke Stimme ist, dass niemand Verkehrspolitik in der Schweiz machen kann, ohne den SEV und seine Mitglieder anzuhören. Wir müssen den Mitgliedern genau aufzeigen, in welche Richtung unsere Fahrt gehen kann. So können die Delegierten bestimmen, wohin die Reise gehen soll. Eins ist klar: Wir werden nicht zulassen, dass die Männer und Frauen, die den öffentlichen Verkehr in der Schweiz möglich machen, unter die Räder kommen.
Michael Spahr